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Haftpflichtversicherung

Billigkeitshaftung bei Haftpflichtversicherung? – BGH vom 29.11.2016

Was war passiert?

Der Kläger ist Lokführer und beabsichtigte, am Hauptbahnhof Hannover vom dortigen Gleis 11 abzufahren. Zu diesem Zeitpunkt saß der Beklagte zunächst unauffällig auf einer Bank am Bahnsteig, bevor er auf- und sodann unvermittelt vor den anfahrenden Zug ins Gleisbett sprang. Der Beklagte ist seit längerem psychisch erkrankt und drogenabhängig. Er stand im Zeitpunkt des Vorfalls unter Betreuung und befand sich wegen einer akuten Psychose in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit.

Glücklicherweise konnte der Kläger den Zug noch mittels Schnellbremsung rechtzeitig stoppen, so dass der Beklagte unverletzt blieb. Der Kläger hingegen litt infolge des Vorfalls unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und verklagte den haftpflichtversicherten Beklagten vor dem Landgericht Hannover auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von mindestens 6.000,00 EUR.

Nachdem sowohl das Landgericht Hannover (Urteil vom 13.04.2015 – 1 O 85/15), als auch das Oberlandesgericht Celle (Urteil vom 24.09.2015 – 5 U 48/15) die Klage abgewiesen bzw. die Berufung des Klägers zurückgewiesen hatten, lag die Sache dem VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs zur Entscheidung über die Revision vor.

Der BGH hatte sich mit der Frage zu befassen, ob trotz der Schuldunfähigkeit und der deliktsrechtlichen „Nichtverantwortlichkeit“ des (haftpflichtversicherten) Beklagten gleichwohl eine Haftung unter Billigkeitsgesichtspunkten aus § 829 BGB begründet war.

I.   Rechtliche Einordnung und Problemstellung

Die maßgeblichen Vorschriften sind § 827 Satz 1 und § 829 BGB:

§ 827 Satz 1 BGB
Wer im Zustand der Bewusstlosigkeit oder in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit einem anderen Schaden zufügt, ist für den Schaden nicht verantwortlich.

Aus § 827 BGB folgt, dass § 823 Abs. 1 BGB (als „klassische“ Anspruchsgrundlage) mangels Verschuldens nicht einschlägig ist und sich ein Schadensersatzbegehren allenfalls auf § 829 BGB stützen lässt:

§ 829 BGB
Wer in einem der in den §§ 823 bis 826 bezeichneten Fälle für einen von ihm verursachten Schaden auf Grund der §§ 827, 828 nicht verantwortlich ist, hat gleichwohl, sofern der Ersatz des Schadens nicht von einem aufsichtspflichtigen Dritten erlangt werden kann, den Schaden insoweit zu ersetzen, als die Billigkeit nach den Umständen, insbesondere nach den Verhältnissen der Beteiligten, eine Schadloshaltung erfordert und ihm nicht die Mittel entzogen werden, deren er zum angemessenen Unterhalt sowie zur Erfüllung seiner gesetzlichen Unterhaltspflichten bedarf.

§ 829 BGB beschreibt die so genannte Billigkeitshaftung, eine Ausfallhaftung in besonderen Ausnahmefällen: Auch derjenige, der für einen Schaden haftungsrechtlich zwar nicht verantwortlich ist (weil er z.B. im Zustand der Schuldunfähigkeit gehandelt hat), soll trotzdem verpflichtet sein, den Schaden des Geschädigten zu ersetzen, als „die Billigkeit (…) eine Schadloshaltung erfordert“.

§ 829 wird häufig als

„Millionärsparagraph“

beschrieben. Dieser Beschreibung liegt – durchaus treffend – ein anschauliches Beispiel für den Anwendungsbereich der Vorschrift zugrunde: Jemand, der über ausreichende finanzielle Mittel verfügt („Millionär“) soll trotz seiner rechtlichen Nichtverantwortlichkeit dem Geschädigten dennoch einen Ausgleich leisten, wenn dieser ohne die Zahlung existenzielle Probleme bekäme. § 829 blendet gewissermaßen die rechtliche Grundlage einer verschuldensabhängigen Haftung aus und stellt an deren Stelle eine Gerechtigkeitsbetrachtung: Wie hart trifft den Geschädigten sein Schicksal (ggf. existenziell) und wie hart trifft es den Schädiger, wenn er trotz seiner rechtlichen Nichtverantwortlichkeit einen Ausgleich leistete?

Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten sind im Rahmen dieser Abwägung zwar das primäre („insbesondere“) heranzuziehende Abwägungskriterium, jedoch spielen auch die weiteren Umstände des Einzelfalls eine Rolle, wie z.B.

  • der Anlass der Tat,
  • die beiderseitigen Verursachungsanteile und
  • die Schwere der Verletzung (wie z.B. ein eventueller Dauerschaden oder eine Minderung der Erwerbsfähigkeit).

II.  Die Entscheidung des BGH

Der BGH hat in seiner Entscheidung zunächst den Ausnahmecharakter der Billigkeitshaftung hervorgehoben: Schadensersatz sei nach ständiger Rechtsprechung des Senats aus § 829 BGB

„nicht schon dann zu gewähren, wenn es die Billigkeit erlaubt, sondern nur dann, wenn die gesamten Umstände des Falles eine Haftung des schuldlosen Schädigers aus Billigkeitsgründen geradezu erfordern.“

Ganz kurz: „Nicht kann, sondern MUSS.“

Etwas länger: Nur, weil der schuldlos handelnde Schädiger „Geld hat“ (und ihm ein finanzieller Ausgleich nicht „weh täte“ und damit unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten „geboten“ erscheinen könnte), bedeutet dies noch nicht, dass ihn dieses zur Haftung verpflichtet. Erforderlich ist zudem, dass der Geschädigte dieses Geld auch zwingend braucht.

Es bedarf mithin einer zweiseitigen Betrachtung:

  • Kann sich der Schädiger einen Ausgleich erlauben?
  • Ist der Geschädigte auf einen solchen Ausgleich angewiesen?

Die Voraussetzungen für die Annahme einer Billigkeitshaftung sind nach Auffassung des BGH „hoch anzusetzen“. Es muss nach dessen Auffassung

„ein wirtschaftliches Gefälle zugunsten des Schädigers“

vorliegen.

In Bezug auf den Beklagten, der über kein Vermögen verfügte, aber über seine Mutter haftpflichtversichert war, stellte sich für den BGH sodann die Frage, ob ein wirtschaftliches Gefälle zu dessen Gunsten gleichwohl aufgrund des Bestehens einer eintrittspflichtigen (Privat-) Haftpflichtversicherung angenommen werden kann.

Ist eine Haftpflichtversicherung bei der Beurteilung der Vermögenslage des Schädigers zu berücksichtigen?

Die Auffassung der BGH zu dieser Frage ist differenziert und hängt davon ab, ob eines sich um

  • eine freiwillige Haftpflichtversicherung oder um
  • eine Pflichthaftpflichtversicherung (wie z.B. die Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung nach § 3 PflVersG)

handelt.

Nach ständiger Senatsrechtsprechung soll nur eine Pflichthaftpflichtversicherung ein für die Beurteilung der Vermögenslage des Schädigers bedeutsamer Umstand sein und anspruchsbegründend wirken.

Das Bestehen einer freiwilligen Haftpflichtversicherung rechtfertige hingegen nicht die Annahme eines wirtschaftlichen Gefälles und erlaube mithin nicht die Durchbrechung des so genannten Trennungsprinzips in der Haftpflichtversicherung.

EXKURS „Trennungsprinzip“

Das Trennungsprinzip in der Haftpflichtversicherung beschreibt die strikte Trennung zwischen Haftungsverhältnis einerseits und Bestehen einer Haftpflichtversicherung (im so genannten Deckungsverhältnis) andererseits.
Das bedeutet, dass der Haftpflichtversicherer eintrittspflichtig ist, wenn eine Haftung des VN besteht, die Haftung des VN aber nicht durch das Bestehen einer Haftpflichtversicherung begründet wird.
Kurz: Die Deckung folgt der Haftung und nicht umgekehrt.

 

Die Differenzierung zwischen Pflichthaftpflichtversicherung einerseits und freiwilliger Haftpflichtversicherung andererseits begründet der BGH wie folgt:

Während die Pflichthaftpflichtversicherung in erster Linie den Schutz des Geschädigten bezwecke, diene die freiwillige Haftpflichtversicherung in erster Linie dem Schutz des Schädigers. Dies werde dadurch deutlich, dass dem Geschädigten nur in der Pflichthaftpflichtversicherung ein Direktanspruch nach § 115 VVG zugestanden werde, während in der freiwilligen Haftpflichtversicherung der Schädiger gegen seinen Haftpflichtversicherer einen Anspruch auf Abwehrdeckung habe. Ein Freistellungsanspruch bestünde hingegen erst bei Feststellung der Haftung und wenn eine solche Haftung nicht feststünde, dann können allein das Bestehen der Haftpflichtversicherung auch nicht als „Vermögensfaktor“ (der ja – mangels Haftung – im Grunde „wertlos“ ist) berücksichtigt werden.

III.   Fazit: „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ in der Haftpflichtversicherung

Nur eine Pflichthaftpflichtversicherung auf Seiten des Geschädigten ist bei der Abwägung zu berücksichtigen, ob dem Schädiger trotz fehlenden Verschuldens eine Haftung zugunsten des Schädigers aufgebürdet werden soll. Eine freiwillige Haftpflichtversicherung hat im Rahmen der Abwägung außen vor zu bleiben.

Wenngleich die Auffassung des BGH im Ergebnis zutreffend ist und das Trennungsprinzips in der Haftpflichtversicherung stärkt, so vermag dessen Differenzierung zwischen Pflicht- und freiwilliger Haftpflichtversicherung nicht vollends zu überzeugen. Beide Haftpflichtversicherungen folgen grundsätzlich gleichen Regeln – einzig der Direktanspruch begründet einen Unterschied. Auch die Pflichthaftpflichtversicherung setzt eine Haftung voraus, so dass nicht recht nachzuvollziehen ist, warum diese bei der Beurteilung der Vermögenslage des Schädigers eine Rolle spielen soll, während dies für die freiwillige Haftpflichtversicherung – zutreffend – unmaßgeblich ist. Immerhin gilt § 100 VVG für beide Haftpflichtversicherungen gleichermaßen.

Auch für den Geschädigten dürfte es schwer nachvollziehbar sein, warum es für die Annahme einer Billigkeitshaftung ggf. entscheidend ist, dass ein Verkehrsunfall durch einen geisteskranken Radfahrer (mit freiwilliger Haftpflichtversicherung) oder durch einen geisteskranken Autofahrer (mit Pflichthaftpflichtversicherung) verursacht wurde.

Dr. René Steinbeck

Dr. René Steinbeck ist Fachanwalt für Versicherungsrecht und Partner der Boutique für Versicherungs- und Haftpflichtrecht Steinbeck und Partner.