Unfallversicherung

Zur erhöhten Kraftanstrengung („ohne Schweiß kein Preis“)

Anmerkung zum Urteil des LG Essen vom 20.05.2015 – 18 O 277/14

Kurz und bündig: Kugelt sich eine versicherte Person beim Öffnen einer Flasche den Daumen aus, dann handelt es sich hierbei nicht um eine „erhöhte Kraftanstrengung“. Es liegt damit kein Versicherungsfall in der privaten Unfallversicherung vor.

Was war passiert?

Die versicherte Person eines Vertrages über eine private Unfallversicherung hatte sich bei dem Versuch, eine Flasche mit Drehverschluss zu öffnen, den Daumen ausgekugelt. Der Verschluss sei extrem festsitzend gewesen, so dass es eines erhöhten Kraftaufwandes bedurfte hätte, die Flasche zu öffnen. Hierbei habe sie den Flaschenhals mit der rechten Hand fest umfasst, als ihr die Flasche dann weggerutscht sei und hierbei den Daumen der linken „mitgerissen“ habe. Vor dem Landgericht Essen begehrte ihr Ehemann als Versicherungsnehmer die Zahlung einer Unfallrente. Die Verletzung seiner Ehefrau sei Folge einer „erhöhten Kraftanstrengung“ und habe eine mindestens 50%-ige Invalidität nach sich gezogen.

Und jetzt?

Beim Öffnen einer Flasche verletzt… Die erste Reaktion eines versicherungsrechtlichen Laien, der aber in den wirklich wichtigen Dingen des Lebens durchaus bewandert ist, dürfte von „Amateur“ bis „selbst Schuld“ reichen. Wenn sich der Schaden zumindest beim Öffnen einer Bierflasche mittels Feuerzeugs (wahlweise – auf Baustellen sehr beliebt – mittels Zollstocks oder Maurerkelle) ereignet hätte, aber Wasserflasche mit Drehverschluss?

Genug des Spotts („Wer den Schaden hat, …..“). Wollen wir uns der seriösen unfallversicherungsrechtlichen Bewertung zuwenden: Die private Unfallversicherung bietet Versicherungsschutz für „Unfälle“ und vom Eintritt eines solchen ist auszugehen, wenn

die versicherte Person durch ein

  • plötzlich
  • von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis)
  • unfreiwillig
  • eine Gesundheitsschädigung erleidet.

Damit ist es aber nicht getan: Der Unfallbegriff und damit der Versicherungsschutz  werden regelmäßig mit der Maßgabe erweitert, dass als Unfall auch gilt (so genannte „Unfallfiktion“), wenn
durch eine erhöhte Kraftanstrengung an Gliedmaßen oder Wirbelsäule

  • ein Gelenk verrenkt wird oder
  • Muskeln, Sehnen, Bänder oder Kapseln gezerrt oder zerrissen werden.

Zurück zum Fall:

Das Auskugeln des Daumens ging nach der Würdigung des Landgericht Essen nicht zurück auf ein „von außen wirkendes Ereignis“, sondern vielmehr auf eine Eigenbewegung der Versicherten. Zwar stand „am Anfang“ eine Flasche mit Schraubverschluss (mithin „etwas von außen“), jedoch ist die eigentliche Gesundheitsschädigung letztlich durch eine Eigenbewegung der Versicherten verursacht worden. Eine „Kollision zwischen Daumen und Flasche“ (welche dann in der Tat als „von außen“ kommend und damit als „Unfallereignis“ anzusehen gewesen wäre), konnte nicht zur Überzeugung des Landgerichts dargelegt und nachgewiesen werden. Der „klassische“ Unfallbegriff ist somit nicht einschlägig.

Liegt aber möglicherweise eine insoweit gleichgestellte „erhöhte Kraftanstrengung an Gliedmaßen“ vor?

Theorie und Kasuistik zur „erhöhten Kraftanstrengung.

Die Unfallfiktion der erhöhten Kraftanstrengung erfasst grundsätzlich solche Fälle, die keine Unfälle im Sinne des eigentlichen Unfallbegriffs darstellen, weil es an einer Einwirkung von außen fehlt. Wann aber liegt eine erhöhte Kraftanstrengung vor? Einigkeit besteht, dass ein erhöhter Einsatz von Muskelkraft vorliegen muss. Aber wann ist dies der Fall? Wann ist der Einsatz von Muskelkraft erhöht? Kann man nicht davon ausgehen, dass – zurück zum Fall – das Öffnen einer Flasche mit „normal sitzendem“ Schraubverschluss den Einsatz normaler Muskelkraft erfordert und damit bei einem „extrem festsitzenden“ Schaubverschluss zugleich der erhöhte Einsatz von Muskelkraft erforderlich ist. Wird man dann nicht auch eine erhöhte Kraftanstrengung bejahen müssen?

Nein.

Der Begriff „erhöhte Kraftanstrengung“ soll normale Handlungen des täglichen Lebens, die zwar einen gewissen Muskeleinsatz, aber nach allgemeiner Lebensauffassung für einen normal gesunden gleichaltrigen Durchschnittsmenschen keinen bemerkenswerten Krafteinsatz erfordern, als sog. Gelegenheitsursachen  vom Versicherungsschutz ausschließen. Versicherungsschutz soll mithin nur für Verletzungen bestehen, die durch eine dem altersgemäßen Normalmaß übersteigende Beanspruchung auftreten.

Als solche Beanspruchungen wurden bejaht:

Verladen von Schweinen (OLG Hamburg VersR 1954, 411);

Tragen von schweren Holzbohlen (OLG Düsseldorf VersR 1954, 555);

Tragen von Rindervierteln (LG Nürnberg-Fürth VersR 1956, 144);

Bizepsriss beim Sportkegeln (OLG Nürnberg r+s 2001, 302);

Endspurt beim Kurzstreckenlauf (OLG Schleswig VersR 1973, 50);

Tanzen eines Csárdás (OLG Frankfurt VersR 1961, 745);

Achillessehnenriss beim Badmintonspiel (LG Dortmund NJW-RR 2009, 389);

schwungvolles Tanzen zu moderner Popmusik (AG Oldenburg VersR 1998, 1103);

Spurt eines Fußballers (LG Bonn VersR 1965, 893).

Dagegen wurde eine erhöhte Kraftanstrengung verneint:

Reinigen einer Windschutzscheibe (OLG Hamm r+s 2003, 429),

normales Tanzen mit Hüpfen und Drehen (OLG Köln r+s 2002, 482),

Achillessehnenriss eines Tennisspielers beim Wechsel von der Vorhand- in die Hinterhandposition während einer Drehung des linken Fußes (OLG Frankfurt r+s 1995, 157),

normalen Gehen auf einer leicht ansteigenden Einfahrt (LG Dortmund r+s 2009, 206),

lateinamerikanischer Tanz (LG Köln r+s 2002, 350)

Schlag beim Tennisspiel (LG Köln VersR 1997, 435).

Wie man sieht: Die Übergänge sind teilwiese fließend: schwungvolles Tanzen zu moderner Popmusik „ja“, lateinamerikanischer Tanz „nein“ (man möchte das Gericht gerne mal sehen, wie es schwungvoll zu moderner Popmusik tanzt…). Dennoch ist eine Tendenz erkennbar: alles was, sich noch irgendwie im Bereich eines normalen Bewegungsablaufs ansiedeln lässt (ohne Schweiß und so…), wie das „Reinigen einer Windschutzscheibe“ oder „Normales Tanzen mit Hüpfen (?) und Drehen“ fällt nicht unter den erweiterten Unfallbegriff.

Wieder zurück zum Fall: Das Aufdrehen einer Wasserflasche ist weder vergleichbar mit dem Tragen von Schweinen oder Rinderhälften und man wird hierin auch keine sportliche Betätigung ansehen können, vergleichbar mit einem Kurzstreckenlauf. Eher wird man das Öffnen einer Flasche mit der Reinigen einer Windschutzscheibe vergleichen können: Eine normale Handlung, wie sie jeder von uns unzählige Male am Tage vollzieht. Und nur, weil etwas „klemmt“, führt die Reaktion hierauf nicht gleich zu einer versicherten erhöhten Kraftanstrengung.

Wie hat das Gericht entschieden?

Das Landgericht Essen zählt eher zur „Rinderhälften-Fraktion“. Nein, seriös ausgedrückt, hat das Landgericht zutreffend das – wenn auch womöglich angestrengte – Öffnen einer Wasserflasche als normalen Bewegungsablauf, mithin als normale Handlung des alltäglichen Lebens qualifiziert und nicht als erhöhte Kraftanstrengung.

Auf den kurzen Nenner gebracht:

  • Kein Schweiß, –>
  • kein erhöhter Muskeleinsatz, –>
  • keine erhöhte Kraftanstrengung, –>
  • kein Versicherungsfall, –>
  • keine Unfallrente.

 

 

Dr. René Steinbeck

Dr. René Steinbeck ist Fachanwalt für Versicherungsrecht und Partner der Boutique für Versicherungs- und Haftpflichtrecht Steinbeck und Partner.